Das Buch „Der weisse Strich“

Anne Hahns Text

Nach der durchgefallen Bucheinführung von Liebold und Sälter skizziert Autorin Anne Hahn die DDR und im Besonderen das Weimar der 80er Jahre und glänzt dabei mit den allseits bekannten, zum millionendsten Mal wiedergekäuten Mängelbescheinigungen, die aber bei Hahn teilweise noch ordentlich über-
trieben werden, z.B. wenn sie schreibt: "Für den Nachwuchs Weimars gilt offiziell:  kein Westfernsehen gucken...keine westlichen Aufkleber, Aufnäher, Wimpel tragen oder zeigen". Es war völlig selbstverständlich, daß mit Ausnahme der Ultra-Rotsocken jeder Haushalt bundesdeutsches Fernsehen schaute und sich auch darüber unterhielt, auch auf Schulhöfen und anderen Plätzen. Informationen aus westdeutschen Medien waren lediglich nicht zi-
tierfähig, da sie als Fakten des Klassenfeindes keine Glaubwürdigkeit besaßen. Auch was die öffentliche Präsenz von Aufnähern u.ä. anging trug es sich weniger drastisch zu als es sich bei Hahn anhört. Ich trug während der letzten Jahre meiner Schulzeit einen Aufnäher des 1.FC Nürnberg auf der Jacke, spielte häufig im Bayern München-T-Shirt auf dem Schulhof Fussball und trug dieses Shirt bei meinen Besuchen der Fussballspiele des FC Carl Zeiss Jena, deren Fans nicht selten Aufnäher ihrer westdeutschen Lieblingsclubs auf ihren Fanjacken trugen. Auf dem Schulhof tauschten wir zudem regelmäßig Sprengelschokolade-Bilder und aus dem bundesdeutschen "Kicker"-Heft abfotografierte Fotos von Bundesligaclubs. Hippies in Bundes-
wehr-Parka-Jacken waren besonders auf republikweiten Bluesfestivals, trampend an Autobahnen, in Ostberlins Szenestadtvierteln und beim Fuss-
ballclub Union Berlin zu finden. Sie hatten sehr häufig ihre kleinen, vom Her-
steller angebebrachten Deutschlandfähnchen noch auf dem Parka. Auf ihren Fanwesten und denen der Anhänger anderer DDR-Oberligaklubs befanden sich Aufnäher ihrer Lieblingsklubs westdeutscher Vereine. Hahn führt dann aus, daß es ratsam gewesen war„ sich drei Jahre freiweillig zur Armee melden". Ratsam für wen ? Doch nur für diejenigen, die ihre Karriere damit fördern wollten, wobei sie sich damit nurmehr einen zusätzlichen Referenz-Pluspunkt verschafften, der den Durchmarsch in die beabsichtigte gesellschaftliche Karriere-Etage vereinfachte. Normale Arbeiter und Angestellte „rissen“ zu-
meist ihre eineinhalb Jahre Armeezeit ab, ohne daß sie in der Regel aufgrund dieser gesetzlich vorgeschrieben Minimal-Pflichtzeit diskriminiert oder in ihrem Werdegang behindert worden wären. Mein Vater beispielsweise war weder drei Jahre bei der NVA gewesen noch auch jemals Mitglied der SED. Er wurde trotz- dem Musikdozent und blieb es bis zum Ende der DDR. 

Anne Hahn weiter: "Bluesfreunde sind für 15- bis 17 Jährige um 1980 kalter Kaffee". Mal abgesehen davon, daß auch das wieder nicht, da nur für einen geringeren Teil stimmt (Willmann, ich und sehr viele andere in diesem Alter kamen um 1980  durch Blues erst zum Einstieg in die Subkultur und viele blieben jahrelang Bluesfreunde) fällt spätestens hier auf, daß sich zu dererlei Untatsachen und Übertreibungen auch noch ein Hang zum DDR-sozialisierten Episodentum gesellt, das für ein Sachbuch- zumal das über eine Westberliner Symbolaktion- meiner Meinung nach ziemlich fehl am Platz ist. Unter der
Überschrift "Die Protagonisten " werden dem Leser dann kurze Beschreibungen der Mauermaler aus ihrer Zeit im Weimar der 80er Jahre gegeben. Daß zur Illustration ausgewählte Polizei-Foto Jürgen Onisseits datiert sichtbar von 1982, wird aber als um 1980 ausgewiesen, was gegen den meines Erachtens eigentlichen Irrtum letztlich jedoch nur eine faktische Ungenauigkeit darstellt. Ein unvoreingenommener Betrachter würde die auf dem Foto abgebildete Person als ordentlich gekleideten Lehrling mit vier auf der Jacke angebrachten Teenager-Badges beschreiben, bei Hahn heisst es hingegen" "Ein frühes Foto seines rebellischen Looks verdanken wir der Polizei". Es stimmt, daß ein paar kleine runde Blechschildchen auf der Jacke zu tragen im real existierenden Sozialismus nicht gewöhnlich waren, mit rebellischem Look hatte das aber selbst in der piefigen DDR noch nichts zu tun, es sei denn, man interpretiert jede  äußere Norm-Abweichung gleich als Rebellions-Statement.
Über mich schreibt Hahn, daß ich im Fleischerhemd (Berufsbekleidung der DDR-Fleischer, später auch von Hippies getragen), langen Haaren und Parka herumlief. Hier ist ausschließlich das unbewußt dahingleitende Fahrwasser gewünschter Stereotype die Mutter des Gedankens. Ich hatte in meiner 
DDR-Zeit zum ersten Mal eines dieser Fleischerhemden zwangsweise 1984 in der Untersuchungshaft an (dort war es die Einheitskleidung der U-Häftlinge), vorher jedoch nicht einen einzigen Tag, auch einen Parka trug ich nicht, son-
dern eine hellbraune Lederjacke. Da ich ab dem 17. Lebensjahr die Haare nicht mehr abschnitt,demnach diesbezüglich als Hippie identifiziert wurde,  ist Hahn einfach ihren stereotyp-sicheren Zeichen-„Instinkten“ gefolgt und hat mich in den charakteristischen Uniform-Look der ostdeutschen Hippies ge-
steckt. Es mieft recht heftig nach Clischees.

Zwei Seiten später schreibt sie vom frühen Tod meiner Mutter (1979 im Alter von 44 Jahren), der angeblich einen völlig überforderten Vater zurückgelassen hat. Eine Aussage, zu deren Fundierung sie sich jede Recherche bei den Be-
troffenen und deren damaligem Umfeld komplett gespart hat. Denn mein Va-
ter hatte nach der Zeit der Trauer bald wieder relativ ins normale emotionale Leben zurückgefunden, fand 1980  eine neue Lebenspartnerin, zu der er nun regelmässig über die verlängerten Wochenenden mit dem Zug von Weimar ins hunderte Kilometer entfernte Dresden fuhr. Mit Ausnahme von mir unter-
stützen ihn seine Kinder tatkräftig. Ich wiederum brachte ihm durch meine zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter aufgenommene Tätigkeit im katho-
lischen Altenheim immerhin nun keine unangenehmen Hausbesuche von Leh-
rern und Kaderleitern mehr ein, sodaß wir ab 1981 bis auf wenige Ausnahmen eine konfliktfreie Zeit hatten, bevor ich meinen Traum von den eigenen vier Wänden dann 1982 durch einen Umzug in eine -der Mutter eines Freundes gehörende -Garage verwirklichen konnte. Hahn bedauert, daß das die Stasi auf die von ihr mitgelesenen meiner Briefe in die Bundesrepublik, die von Fluchtwünschen und Systemnegation gekennzeichnet waren, mit Überwa-
chung reagierte, statt mir zu helfen. Offenbar hat Hahn noch heute Illusionen über eine Diktaur, obwohl sie doch unter ihr aufgewachsen ist. Meine Oppo-
sitionshaltung, die nicht, wie Hahn mutmaßt, Ergebnisse einer vom Mutter-
Tod zerrütteten Familie gewesen ist, sondern sich lange vor diesem tra-
gischen Todesfall sukzessive herausgebildet und in der Schule öffentlich geäußert hatte, war ernsthaft genug, als daß ich mich von denen, die Ge-
genstand dieser Kritik gewesen waren hätte "repressiv tolerieren" und als lediglich durch Privatumstände verwirrter Teenager verharmlosen und schließlich re-integrieren lassen wollen. Die Observationsmaßnahmen (z.B. Kameraüberwachung meines Zimmers, heimliche Begleitung bei z.B. Arzt-
besuchen) nahmen die echte politische Intention meines Nonkonformismus immerhin ernst, wenn auch auf völlig übertriebene Weise. Wohingegen Hahns Vorschlag angesichts der zu negierenden Verhälnisse nicht nur illusionär, 
sondern genau das ist , was keine aufgrund von bestimmten gesellschaft-
lichen Zuständen radikal gewordene Opposition je wollte: sich seine ernst-
haften Beweggründe als privatumständebedingte Orientierungsstörungen neutralisieren zu lassen. Störungen, welche dann in ihrer Bedingtheit erkannt und durch integrative Hilfestellungen zurück in die Gesellschaft geführt wer-
den müssen. Es ist exakt die liberalrepressive variante der  Pädagogik des Totalitarismus durch Auslöschung von Diversität und Widerspruch.
 

Katharsis

Auch im folgenden, unter dem Titel "Katharsis" geschriebenen Abschnitt wimmelt es bei Hahn von in DDR-Oppositionsromantik verpackte  Gut-
Böse-Selbstverständichkeiten, Episödchen und affektiven Deutungen, die allenfalls für diejenigen interessant sind, die sich gern darin wiederfinden, nicht aber für Leser.die als Aussenstehende einen Einblick in die tatsächlichen motivischen Hintergründe der Strich-Aktion erhalten wollen. Einen politisch an jüngerer deutscher Geschichte interessierten Bürger zum Beispiel aus Ham-
burg oder Rostock dürfte es nicht interessieren, ob einige der Mauermal-
Akteure sich sechs Jahre vor der Strich-Aktion im sogennanten kleinen inner-
deutschen Grenzverkehr mit ein paar Jugendlichen aus Kassel trafen., wo man dann in deren Auto durch Thüringer Orte fuhr, strassenspazierte und in lang-
weiligen, da einzigen verfügbaren Kneipen sich unterhaltend ein paar Bier trank. Was tragen solche Episoden zur Erhellung der Strichaktion bei ? Gar nichts.

Massensterben am Alexanderplatz (Oktober 1983)

Wie schlecht das Buch zudem teilweise recherchiert ist zeigt eine Notiz auf Seite 20, die über eine im Oktober 1983 beabsichtigtes Antikriegs-Aktion am Berliner Alexanderplatz Auskunft geben will. Dabei wird von einer  "grossen Friedensmeditation" gesprochen, obwohl es sich nicht um eine solche han-
delte aber bei Hahns stereotypem Umgang mit Oppositionen in der DDR überhaupt nicht verwundert. Eine Friedensmeditation bedeutete eine inner-
halb der DDR-Kirchen von der dort sich versammelnden Friedensbewegungs-
gemeinde abgehaltene Veranstaltung, die durch das religiöse Ritual des Betens  sowohl nach außen abgesichert(legitimiert) als auch gleichzeitig davon geprägt war. Fürbitten wurden vorgetragen, Besorgnios über die wachsende Militarisierung der Zivil-Gesellschaft ausgedrückt und Schwei-
geminuten z.B. für den Frieden abgehalten. Bei der Aktion am Alexanderplatz handelte es sich jedoch um eine kirchenunbhängige politische Aktion in Form eines durch die Teilnehmer verkörperten demonstrativen Massensterbens exakt um „Fünf vor Zwölf„ Übereinandergestapelt wollten die aus Ost und West an- gereisten Teilnehmer minutenlang  totenstarr auf dem Platz um die Weltzeituhr liegen um auf die bevorstehende Katastrophe aufmerksam zu machen.

Die unter dem Protest-Typ „Die in“ firmierende  Aktion sollte ein systemübergreifendes Happening mit Rüstungsgegnern aus Ost und West werden, deren friedliche Fusion im gemeinschaftlichen Engage-
ment die kriegstreibenden Feindbilder unterminieren wollte . Beweggrund für diese Aktion war gewesen, daß 1983 ein atomarer Weltkrieg so kurz vor seinem Ausbruch stand wie bis dahin nicht und seitdem auch (noch) nicht wieder. In den für die Establishments in Ost und West bereitgestellten unterirdischen  Atombunkern waren bereits die Betten frisch bezogen. Es gibt heute  Dokumentationen über jene apokalyptische Situation 1983, die durch die Eskalation von Raketenstationierungen in Ost und West entsanden war und in der die beiden atomaren Grossmächte SU und USA das gesamte Europa aufs Spiel setzen, also restlos zerstören konnten, ohne dabei selbst getroffen zu werden. Auf zahlreichen Demonstrationen in Westeuropa protestierten die Menschen gegen dieses dem europäischen Kontinent drohende Schicksal ato-
maren Verheiztwerdens durch die beiden Supermächte USA und Sowjetunion, auch wenn die Regierenden der europäischen Staaten das gemäß ihrer Anbin-
dung an eine der Supermächte anders sahen. Sie stellten sich für dieses Szenario willig zur Verfügung und nannten es friedenssichernde Bündnistreue.

In den USA gab man teilweise offen  zu, die UdSSR totrüsten zu wollen, also über militärisch notwendige Ausgaben die vergleichsweise ohnehin schwache Ökonomie des Realsozialismus massiv zu schwächen hatte eine Wechsel-
spirale des gegenseitigen Abschreckens auf den Plan gerufen, bei dem die Kontrolleure die Kontrolle über ihr Destruktivpotenzial nicht besonders ernst zu nehmen brauchten, weil die Folgen sie selbst nicht betrafen, da sie au-
ßerhalb des zu erwartenden Inferno-Schauplatzes lebten.Für die Kriegsgegner deshalb nicht mehr relevant, wer von den beiden sich bedrohenden Gesell-
schaftssystemen das demokratischere oder sozialere war, sodaß man dann sinnvollerweise seine militärische Verteidigung gutheißen mußte. Erheblich war vielmehr, daß allein ihre Gegensätzlichkeit einen Punkt der Auseinander-
setzung erreicht hatte,der beide Welten gleichermaßen in Schutt und Asche verwandeln würde. Das zu Überwindenede war also nicht eine der beiden Parteien, sondern die Gegnerschaft der beiden, welche ein atomares Inferno heraufbeschwor.
 

Die Folgen eines solchen Infernos durch ein symbolisches Massensterben 
öffentlich zu demonstrieren und dabei durch Zusammenkunft der Menschen aus den konträren Lagern die Ost-West-Feindbilder zu unterlaufen war Zweck der Aktion am Alexanderplatz, bei die Teilnehmer um Punkt fünf vor zwölf starr auf dem Boden liegen würden, um die Folgen eines Krieges schockbild-
haft zu vergegenwärtigen. Der Westberliner Claus-Otto S., welcher Urheber dieses „Die in“ gewesen ist, sowie Volker O. und ich hatten versucht, die Aktion in den dafür infragekommenden Kreisen bekanntzumachen, um mögliche Teilnehmer zu gewinnen. 

Auch Jürgen Onisseit machte die Aktion bekannt. Allerdings der anderen Seite. Er erzählte dem MfS davon, nannte die Urheber aber nicht, vermutlich wußte er sie auch gar nicht genau. Onißeit  wird unter den MfS-Informanten aber nicht der einzige gewesen sein, der Mitteilung davon machte. Es kam darauf-
hin, wie es im Falle des Verrats kommen mußte: der Plan wurde vom MfS vereitelt. Den westeuropäischen Teil der Teilnehmer ließ man dadurch nicht nach Ostberlin, indem die Grenzübegänge den ganzen Tag geschlossen  blieben. Die potenziellen Demonstranten aus der DDR wurden am Abend verhaftet, befragt und bis zum nächsten Tag solange festgehalten, bis es unmöglich war, Ostberlin rechtzeitig zum Beginn der Aktion zu erreichen. 

In Willmanns/Hahns Buch wird diese insbesondere das Jahr 1983 so prägende Vorkriegs-Situation überhaupt nicht erwähnt, stattdessen wird das Thema Frieden hier einzig zu einem thematischen Protestort gegen die DDR-Verhält-
nisse, wobei sich alle Termini diesem Anliegen unterordnen. Friedensmeditationen sind da immer in erster Linie Oppositionen gegen das DDR-Regime und nicht Ausdruck globaler Sorge. 

Allen diesbezüglichen Begrifflichkeiten haftet diese verengende Instrumentali-
sierung als Op-Positionierung auschließlich gegen die DDR an. Die Bedeutung systemübergreifender,anti-apokalyptischer Bemühungen wird überhaupt nicht angedeutet, stattdessen alles – von Antimilitarismus, Punk,linksalter-
nativer Kultur- zu Zeichen und Zielen für Widerstand ausschließlich gegen die DDR-Verhältnisse instrumentalisiert und damit gerade auch dort in seiner 
globalen Dimension ignoriert, wo diese bereits zum reflektierten Selbstver-
ständnis der jeweiligen Protagonisten gehört und das zu einem Engagement führte, bei dem die Stasi nicht der primäre Feind und Objekt erstrangiger  Zerstörungswünsche war, sondern etwas, das einen in diesem antiapoka-
lyptischen Einsatz behinderte und daher extrem lästig erschien.

Selbstverständlich findet man auch zu dieser Aktion im Buch wieder Oppositions-Episödchen und erfährt  dabei, daß über den an der „Die in“-Teilnahme gehinderten (späteren Mauerstrich-Maler) Frank Schuster im Novemebr 83 vom MfS eine Liste über dessen Aktivitäten verfasst wurde, die ausschließlich  solche staatsfeindlichen Hochkaräter enthielt wie "Kontakt-
partner zu Punkanhängern, Kontaktpartner zu "Friedenskreisen" und weitere -die Leseaufmerksamkeit mindernde- Banalitäten aus dem Leben eines MfS-Protokolls. 

Gegen Ende von Hahns Text erfährt der Leser noch, daß das Konzept der Zersetzung des "Montagskreis" genannten Subkulturtreffs aufgegagngen wäre.
Es folgen beliebte, die Situation massiv und drastisch erscheinen lassende Pluralismen. "Angebliche Freunde verrieten Freunde, politische und leicht-
sinnige Halbwüchsige saßen für Taten in Gefängnissen (es handelte sich in Form der Untersuchungshaft Erfurt um nur ein Gefängnissen d. Verf.), die aus heutiger Sicht banal wirken." 
Wie bitte ? Wenn sie damals nicht banal wirkten, muß ja ihre Bestrafung seinerzeit wohl durchaus berechtigt gewesen sein. Doch sie wirkten doch schon damals relativ banal, nämlich im Selbstverständnis der "Täter" und zudem in dem damaligen Teil der Welt, der der demokratische war, wo man für Graffiti und sonstige Fassadensprühereien im Fall der Entdeckung  in der Regel nur Geldstafen zu erwarten hat. Hahn möchte die Zersetzungsabsicht des MfS dadurch beweisen, daß Strafen verhängt wurden, die nur aus dieser Zersetzungsabsicht so hart ausfielen. Jedoch wurden die Sprüh-Akteure des Oktober 1983 wegen Rowdytum angeklagt, weil mit einer solchen Anklage mildere Urteile möglich waren als mit einem politischen Paragraphen wie den für staatsfeindliche Hetze, der Strafen ab einem bis zu 8 Jahre Haft vorsah. Für Parolen wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ wegen staatsfeindlicher Hetze angeklagt zu werden, wie es die Staatsfeindlichkeit des Inhalts nahe-
legt, hätte eine Bestrafung von nur ein  paar Monaten Untersuchungshaft ausgeschlossen. Zwar hatte es zuvor schon Sprühereien gegeben, die deutlich glimpflicher oder gar nicht sanktioniert wurden, aber die inhaltlich weniger heftig gewesen waren, ganz abgesehen vom geringeren quantitativen Ausmaß. Hinzu kam, daß das MfS diesen öffentlichen Darbietungen aus der Sprühdose nun vermutlich endlich einen abschreckenden Riegel vorschieben wollte.

Natürlich war die Stasi bestrebt, die Unruheherde beharrlich zu schwächen und nach Möglichkeit vollständig zu sersetzen.. Dabei arbeitete es vor allem mit Verunsicherung und dem Sähen von Mißtrauen in den zu zersetzenden Milieus. Eine Methode  war es, eine oder meherer Personen aus einem inhaftierten Personenkreis ohne Begründung deutlich  früher als die anderen Inhaftierten aus der Haft zu entlassen, ohne das dafür schlüssige Gründe vorlagen. Mit solchen Haftentlassungen konnte Mißtrauen gegenüber der frühzeitig frei-
gelassenen Person erzeugt werden. 

Doch die ganze Zersetzungsbehauptung als Begründung für die Weimarer Inhaftierungen, wie sie Hahn und Willmann in ihrem Buch aufstellen stimmt 
so nicht. Bei ihren Inhaftierungen, sowohl der Jugendlichen, die Parolen an die Häuserwände gesprüht hatten als auch der Wehrdienstverweigerer und der Flugblatthersteller ging das MfS  ziemlich exakt nach ihrer Gesetzeslage vor und hätte für die Handlungen, die zu den Inhaftierungen führten auch dann Haftbefehle erlassen, wenn die inhaftierten Personen keiner Szene ange-
hörten. die das MfS zersetzen wollte. Umgedreht kann man davon ausgehen, daß ohne die genannten Handlungen die betreffenden Personen auch nicht inhaftiert worden wären. Die Tatsache, daß so mancher Punk oder Frie-
densengagierte jahrelang vomGefängnis verschont  blieb, obwohl seine Aktivitäten Stoff für Inhaftierungs- Möglichkeiten boten, wenn man sie entsprechend hart auslegte beweist meine Argumentation. Anders hingegen verhielt es sich bei Ausreiseantragstellern, die insofern gefährlicher lebten, weil man bei ihnen kleinste Gründe für eine Inhaftierung regelrecht suchte, weil der Gefangenenfreikauf für die DDR deutlich lukrativer war als die Geneh-
migung von Ausreiseanträgen.

Um den Zersetzungsprozess zu beschleunigen hat das Weimar-Erfurter MfS kein einziges Mal zum Mittel der Abschiebung gegriffen. Diejenigen, die aus der DDR ausreisten, wurden nicht abgeschoben, sondern hatten Ausreisean-
träge gestellt. Daß diesere Antrag durch die diktatorischen und wirtschaft-
lichen Verhätnisse des Realsozialismus und oft auch durch persönliche Ver-
unsicherung motiviert war macht daraus noch keine Abschiebung.

Verhaftungsgründe erzeugende  Agent provocateurs hatten weder die Fassa-
densprüher noch wir Flugblatt-Hersteller  in unserer Mitte......und andere Verhaftungen gab es im Weimar des Jahres 1983/84 nicht, sieht man einmal von der Steffi Ebischs ab, deren Verhaftungsgrund Kontaktaufnahme mit BRD-Institionen zur Forcierung Ihrer beantragten Übersiedlung in die Bundes-
republik D. gewesen ist. 3-5 Monate Haft- die zudem nicht im Straf-Vollzug, sondern der Untersuchungshaft abgesessen werden mussten-für die öffent-
liche, durch  Wandbesprühung artikulierte  Forderung vier Jungerwachsener, aus dem Staat Gurkensalat zu machen, Widerstand zu leisten und zurück-
zuschlagen können unter demokratischen Maßstäben nur ein Justizirrtum sein, aber waren (und sind) in einer Dikatur nicht Zeichen einer forcierten Zerset-
zungsstrategie mit mutwilligen Verhaftungen und darauf folgenden willkürlich hoch verhängten Strafen. Ebensowenig wie es zwei Jahre für die Idee zu und Herstellung von Flugblättern mit Aufruf zum Wahlboykott der SED-Regierung nicht sind.

Wenn nun Verhaftungen aus reiner Willkür und Zersetzungsabsicht gescha-
hen, wieso haben soviele unangepasste Menschen bis 1989 in Weimar gelebt, ohne jemals in Haft gekommen zu sein?  Die Antwort ist einfach: weil sie keine Straftat im Sinne des DDR-Gesetzbuches begangen hatten und zudem
entweder hartnäckiger dem Druck standhielten oder einen geringeren aus-
zuhalten hatten als jene, die die DDR verließen.

Die unbestreitbar vorhandene Zersetzungsabsicht des MfS agierte meiner Meinung nach viel rationaler: Mißtrauen wurde gesäät und die Überwa-
chungsmaßnahmen erhöht, um die gespanntere und damit straftatenaffinere Situation unter observativer Kontrolle zu haben und dann rechtzeitig zu-
schlagen zu können. Oft wurde die Überwachung auch ganz unverhohlen betrieben, um von Taten abzuschrecken und zu signalisieren, daß dem MfS nichts entgeht. Sicherheitsbehörden in aller Welt tun das, nur daß es -und das ist der wesentliche Punkt- in Diktatur und Demokratie ganz unterschiedliche Auffassungen darüber gibt,was alles als kriminell zu bewerten ist. Auch die DDR-Justiz  hat zumeist nicht grundlos einfach drauflosverhaftet, sondern in den meisten Fällen benötigte es eines rechtswidrigen Anlasses, der aufgrund der politisch-repressiven und kleinlichen Rechtsprechung viel schneller ge-geben war. Wenn man so will stellte das Gesetzbuch der DDR bereits das grösste und permanent arbeitende Projekt zur Zersetzung von Oppositionen dar. Jeder wußte das, noch bevor er sich entschied, oppositionell tätig zu werden. Oppositionell aktiv zu werden u.a. auch wegen der und gegen die Existenz solcher Gesetze.
 

Ausreiseanträge in die BRD

Frank Willmann wird von seiner Lebenspartnerin Anne Hahn im Buch sinnge-
mäß als Initial-zünder einer Weimarer Ausreisewelle bezeichnet, obwohl zu dieser Zeit und noch vor seinem Ausreise-Antrag auch andere, junge Personen aus der Weimarer Alternativ-Szene (Steffi E., Volker O., Sabine K.) einen Aus-
reiseantrag gestellt hatten und nicht sein Antrag es war, der andere des-
gleichen motivierte, sondern seine und die tausender anderer DDR-Bürger  durch einen an die DDR gegeben Milliardenkredit des westdeutschen CSU-Po-
litikers Franz Jooseph Strauß mitbewirkte schnelle Ausreise. Angesichts der dadurch signalisierten Aussicht auf zügige Bewilligung motivierte es viele Bürger, einen solchen Antrag auf Übersiedlung zu stellen. Denn nun hatte ein entsprechendes Ersuchen plötzlich sehr gute Aussichten auf baldige Bewil-
ligung statt das die betreffenden Personen mit der üblichen Prozedur langen Wartens, niedrigbezahlter Hilfsarbeit, sozialer Marginalisierung und Inhaf-
tierung aus geringem Anlaß rechnen mußten.

Eine massive Ausreisewelle hat es in der Weimarer Subkultur nicht gegeben. Von den sechs Sprühakteuren lebten drei bis zum Ende der DDR in Weimar und hatten bis dato auch keinen Antrag auf Übersiedlung gestellt. Die Weimarer Punkband "Madmans" blieb ebenfalls bis Mauerfall in kompletter Besetzung in der DDR und gab dort regelmässig Konzerte, Darüberhinuas blieben aus dem Umfeld von Punk und „Montagskreis“ zahlreiche Personen bis zum Ende des Regimes in der DDR, wohingegen nach Willmanns Antrag im Laufe der folgenden 2 Jahre noch 7 weitere, unabhängig von Willmanns Über-
siedlung gestellte Antragsteller aus der Weimarer Subkultur hinzukamen.

 


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